Am 18.01.2016 begann der dritte Prozesstag im zweiten
Verhandlungs-Komplex mit der Befragung von zwei Polizeibeamten. Beide
sollten Angaben zu den Vorwürfen der gefährlichen Körperverletzung,
genauer gesagt dem vermeintlichen Pfefferspray-Einsatz machen.
Während
der eine Beamte sich an das Geschehen nicht erinnern konnte und
lediglich seinen Vermerk wiedergab, in dem er niederschrieb, dass L.
Voigt noch am selben Abend auf die Wache kam und berichtete, dass er mit
Pfefferspray angegriffen wurde, er aber nicht wisse von wem; berichtete
der andere Beamte Entlastendes. So bestätigte letzterer, dass L. Voigt
direkt nach dem vermeintlichen Angriff der eintreffenden Polizei
berichtet hätte, er wurde von einem anderen als dem Angeklagten mit
Pfefferspray angegriffen. Noch am selben Abend änderte Voigt jedoch
seine Meinung und sagte er „vermute“ das Pfefferspray ging vom
Angeklagten aus. D. Bittner, der vermeintliche Hauptgeschädigte wollte
zunächst gar keine Aussage machen. Der Beamte selber erinnere sich nicht
daran, den Angeklagten vor Ort überhaupt gesehen zu haben.
Im weiteren Verlauf stellte die Verteidigung einen Antrag zur Ladung
weiterer Zeug*innen: mehrere Neonazis, die an dem Abend vor Ort gewesen
sein sollen, den behandelten Notarzt, den Krankenhausarzt und Personen,
die an dem Abend im Ort des Geschehens gearbeitet haben. Da mit den
beiden gehörten Polizeibeamten der Komplex des vermeintlichen
Pfeffersprayeinsatzes abgeschlossen war, folgte eine zusammenfassende
Erklärung der Verteidigung zum bisherigen Verlauf. So schilderten sie
abschließend, dass der in der Anklageschrift vorgeworfene
Straftatbestand dem Beschuldigten bisher nicht nachgewiesen werden
konnte. Es hätten zwar drei Stimmen angegeben, dass es der Angeklagte
war, der das Pfefferspray gesprüht habe; A. Krause, L. Voigt und D.
Bittner haben das jedoch erst im Nachhinein, nachdem einige Tage
verstrichen waren, bei der Polizei ausgesagt. Keiner der Zeug*innen
hatte jedoch eine detaillierte Erinnerung an das Geschehen und konnte
den vermeintlichen Pfeffersprayeinsatz rekonstruieren: wer hat wo
gestanden, wie sah das „Behältnis“ aus usw. Somit könne die Anklage
nicht gehalten werden – vor allem vor dem Hintergrund der gemachten
Erfahrungen, die Absprachen zwischen den Neonazis zum Zwecke der
Belastung von Antifaschist*innen, betreffen. So war es auch bei dem
ersten Verfahrenskomplex der jetzt Beschuldigte, an dem die Neonazis ein
besonderes Interesse aufwiesen. Weiterhin gab die Verteidigung an, dass
sie sich vorbehält Sachverständigengutachten zur Bewertung der Güte der
Zeug*innenaussagen einzuholen und äußerte ihre Verwunderung darüber,
dass das Gericht nicht „härter“ mit den gehörten Neonazizeug*innen
umgegangen sei, trotz derer (fast) vollständigen Gedächtnisverluste.
Dies könnte einen falschen Eindruck erwecken. Ganz nach dem Motto: ich
ändere meine Aussage bei der Polizei dann vor Gericht, belaste den
Antifaschisten und sage zu allem weiteren, ich erinnere mich an nichts –
dann läuft das schon.
Im weiteren Verlauf wurde der zweite angeklagte Komplex verhandelt. So
folgten die Anklagepunkte Beleidigung und Nötigung aus einer Geschichte,
bei der die Neonazi-Aktivistin M. Bornemann Kakao übergeschüttet worden
sein soll. Zudem soll sie auch noch beleidigt worden sein – so oder so,
auf jeden Fall ein Fall für das Landgericht….
Zunächst wurde S. Weber, eine „ehemalige Freundin“ gehört. Diese konnte
sich jedoch gar nicht an den Vorfall erinnern. Nach kurzer Bedenkzeit
und einem Stichwort berichtete sie von dem Vorfall und erzählte, wie der
Angeklagte M. Bornemann mit dem Kakao überschüttete. Ihre Aussage bei
der Polizei vor zwei Jahren, in der sie berichtet hatte, das mit dem
Kakao wäre jemand anderes gewesen, konnte sie sich auch nicht erklären.
Schließlich gab sie an, dass es M. Bornemann war, die ihr damals gesagt
hatte, wer der Täter war – damals wohl nicht der Angeklagte.
Als nächster Zeuge folgte ein Antifaschist aus Bückeburg, der zunächst
selber der Tat beschuldigt wurde. Er berief sich auf sein
Aussageverweigerungsrecht. Das Gericht machte zwar noch den Versuch an
(„nicht belastende“) Einzelheiten zu kommen, nach dem die Verteidigung,
jedoch auf die Mosaik-Theorie nach dem BGH verwies, wurde der
Antifaschist als Zeuge entlassen.
Dazu hier mehr juristisches im Detail:
Der Bundesgerichtshof hatte in einer wegweisenden Entscheidung (5 I BGs
286/87) vom 6. Februar 2002 einem Zeugen eine Auskunftsverweigerung nach
§ 55 Strafprozessordnung (StPO) zugestanden, da eine Beantwortung der
gestellten Frage unter Umständen dazu geführt hätte, Beweismaterial
gegen sich selbst zu beschaffen.
Das Auskunftsverweigerungsrecht besagt gemäß § 55 StPO, dass jeder
Zeuge die Auskunft auf Fragen verweigern kann, deren Beantwortung ihm
selbst oder einem der in § 52 Abs. 1 bezeichneten Angehörigen die Gefahr
zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit
verfolgt zu werden.
Hiernach kann ein Zeuge die Auskunft auf solche Fragen verweigern,
deren Beantwortung ihn der Gefahr aussetzen würden, wegen einer Straftat
oder Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden, denn das
Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO dient nicht dem Schutz des
Angeklagten, sondern dem Schutz des Zeugen. Das Recht auf
Auskunftsverweigerung bestand aber nur dann, wenn der gesamte Inhalt zu
einer Zwangslage des Zeugen führen kann. Sind dagegen nur Bruchstücke
aus der Aussage des Zeugen problematisch, könnte dieser die Auskunft
nicht verweigern und müsste somit Teile zu seiner eigenen Verfolgung
preisgeben. Dieser mittelbaren Gefahr ist der Bundesgerichtshof mit dem
Urteil von 6. Februar 2002 entgegengetreten. Demnach kann ein Zeuge die
Auskunft sogar insgesamt verweigern, wenn seine Aussage mit seinem
eigenen etwaigen strafbaren Verhalten in so engem Zusammenhang steht,
dass eine Trennung der selbstbelastenden und der nicht selbstbelastenden
Aussageteile nicht möglich ist. Es muss sich also um Fragen handeln,
deren wahrheitsgemäße Beantwortung nicht an sich eine Strafverfolgung
auslösen, welche aber Teilstücke eines „mosaikartigen“ Beweisgebäudes
betreffen und daher zu einer Belastung des Zeugen führen können. Dazu
ist grundsätzlich bereits ausreichend, wenn der Zeuge Tatsachen angeben
müsste, die nur mittelbar den Verdacht einer Tat begründen würden.
Nach Entlassung des Zeugen wurden die Strafanträge der Nötigung und
Beleidigung eingeführt. Diese waren von den Eltern von M. Bornemann
unterschrieben. Das unfassbare daran ist der Vorwurf der Nötigung nach §
240 StGB Absatz 4, der da lautet:
„In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs
Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der
Regel vor, wenn der Täter
1. eine andere Person zu einer sexuellen Handlung nötigt,
2. eine Schwangere zum Schwangerschaftsabbruch nötigt oder
3. seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger mißbraucht.“
Inwieweit das vermeintliche Überschütten mit Kakao einen dieser Punkte
erfüllt, bleibt ungeklärt. Auf diese ganz offensichtlich falsche
Belastung seitens der Polizei, die nicht im Entferntesten für diesen
Tatbestand in Betracht kommt, verwies auch die Verteidigung und legte
dem Staatsanwalt nahe, dieser Frage bei dem betreffenden Beamten, der
den Strafantrag aufgenommen und diesen Paragraphen gewählt hatte,
nachzugehen.
Nach einer zweistündigen Pause folgte die Befragung der vermeintlichen
geschädigten M. Bornemann. Diese verlief jedoch sehr kurz, da selbige
angab, sich nach einem schweren Autounfall im vorletzten Jahr, bei dem
sie mehrere Kopfverletzungen, Beckenbrüche usw. erlitt, an nichts mehr
erinnern zu können. Die Zeugin wurde daraufhin entlassen.
Die Lage stellte sich nun so dar: der Angeklagte wurde entlastet und in
diesem Komplex wäre ein Freispruch für den Angeklagten das einzig
vertretbare gewesen. Dies wollte oder konnte der Staatsanwalt aber
offensichtlich nicht zulassen und stellte einen Antrag auf Einstellung
des Sachverhaltes. Die Verteidigung zeigte sich empört, da sie doch von
Anfang an an einer Prozessökonomie interessiert war und bereits zu
Beginn des Prozesses den gleichen Antrag auf Einstellung gestellt hatte
– die Staatsanwaltschaft war damals jedoch nicht dazu bereit. Weiterhin
äußerte die Verteidigung den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft jetzt
nur so handelt, weil sie die Fälle davon schwimmen sehen würde und
einen Freispruch so vermeiden würden wolle. Zudem regte die Verteidigung
an, dass wenn die Kammer den Komplex tatsächlich einstellen sollte, sie
wenigstens die Kosten nicht dem Beschuldigten auferlegen dürfe.
Nach einer Beratung verkündete die Kammer letztlich die Beschlüsse die
drei Komplexe wegen Nötigung/Beleidigung/Bedrohung einzustellen. Die
Kosten für den Gerichtsprozess würde die Landeskasse tragen. Die
persönlichen Kosten müsse jedoch der Angeklagte tragen. Zudem wies sie
den Antrag der Verteidigung auf die Vorladung weiterer Zeug*innen mit
dem Verweis auf fehlende Formalia und einen fehlenden Aufklärungswert
ab. Die Verteidigung legte Beschwerde gegen die Auferlegung der
persönlichen Kosten ein und kündigte an ggf. einen neuen
Beweismittelantrag zu formulieren.
Zudem erklärte die Verteidigung sie habe sich sehr intensiv auf die
Befragung von M. Bornemann vorbereitet und nur aufgrund ihres
gesundheitlichen Zustandes davon abgesehen zu haben, diese Befragung durchzuführen. Die Verteidigung wäre jedoch
bereit, die angesammelten Materialien zur Zeugin Bornemann, die
volksverhetzenden Charakter haben und verfassungswidrige Kennzeichen
enthalten, der Staatsanwaltschaft zu übergeben.
Es geht weiter, am Freitag denn 22.01.2016 um 9 Uhr vor dem Landgericht
Bückeburg. Das Gericht kündigte an, dass es bereits Freitag zu den
Plädoyers kommt, sollten keinen neuen Anträge eingereicht werden.
Möglicherweise wird am Freitag also das Urteil gesprochen.